DIE TOTALE ÜBERWACHUNG.
Ein NEWS-Test dokumentiert,
dass "Big Brother" längst Alltag ist. 100.000 Videoanlagen sorgen dafür, dass jeder
Österreicher bis zu 90 (!) Mal pro Tag durch versteckte Kameras gefilmt wird.
In Österreich ist jeder ein
TV-Star. Karin R. ist bereits zwanzig Minuten nach dem Aufstehen das erste Mal formatfüllend
im "Fernsehen". Sichtbare und unsichtbare Videokameras begleiten sie Schritt für Schritt auf
ihrem Weg durch Wien. Alles wird beobachtet und festgehalten: vom selbstvergessenen
Nasenbohren beim Warten auf die U-Bahn bis zum unterdrückten Gähnen im Stau am Ring.
Kameras auf Ampeln, Lichtmasten und Hausfassaden, in Tunnels, Garagen und U-Bahnstationen,
in Einkaufszentren, Banken, Wohnsiedlungen und Museen und in den Gängen von Grßraumbüros
beäugen die junge Frau den ganzen Tag.
Kameradichte pro Kopf.
Für die meisten Menschen ist dieses Szenario unbewusster Alltag. Experten schätzen, dass man
in Österreichs Städten, an der Spitze Wien, bis zu 90-mal täglich am Monitor eines Bildschirms
auftaucht. Egal ob auf der Straße, beim Einkaufen oder am Arbeitsplatz, Herr und Frau
Österreicher sind permanent im Bilde. Rund 100.000 Kameras sind 24 Stunden am Tag auf uns
gerichtet, und zeichnen - meist ohne unser Wissen - jede Bewegung auf.
Eine völlig legale Aktivität,
denn für Videoaufzeichnungen im privaten und halböffentlichen Bereich gibt es noch keine
regelnden Gesetze. So lange nicht veröffentlicht wird, ist alles erlaubt und wenig verboten.
Du bist nicht allein.
NEWS machte den Test und recherchierte, wo in Österreich überall Kameras
positioniert sind. Gemeinsam mit Polizei, Überwachungsfirmen, Detektiven und
Einzelhandelskaufleuten gelang es einen beinahe lückenlosen Tag im Leben unseres Teststars
nachzuvollziehen (siehe Slideshow auf NEWS NETWORLD).
Vom Verlassen ihrer Wohnung
um 8:00 Uhr früh bis zum Casinobesuch um 22:00 Uhr entstand an mehr als 20 Drehorten
ein abendfüllender Spielfilm. Die Zahl der Schauplätze ist unendlich groß, doch laut Meinung
von Experten ist unsere Testperson neben all den dokumentierten Aufzeichnungen in noch
mindestens 50 weitere "Aufnahmestudios" geplatzt - ohne es zu merken -, denn in
Österreich ist das Aufzeichnungen von Bildern rechtlich nicht geregelt. Jeder kann und darf
dort aufzeichnen, wo er rechtmäßig Zutritt hat. Ohne Ankündigung und Einschränkung.
Ein Faktum, das in der Politik
für Erregung sorgt. Rudi Anschober von den Grünen: "Big Brother wird langsam allgegenwärtig.
Der rechtsfreie Raum ist ein Skandal. In der letzten Legislaturperiode wurde das Thema von
uns dem Innenausschuss vorgelegt. Null Interesse."
Im nicht öffentlichen Bereich
sind lediglich die Arbeitnehmer durch ein vages Gesetz geschützt: "Die Einführung von
Kontrollmaßnahmen durch den Arbeitgeber bedürfe der Zustimmung des Betriebsrates, sobald
diese die Menschenwürde berühren." Die zweite Einschränkung betrifft die Polizei, die in den
meisten Fällen eine gerichtliche Bewilligung benötigt, um videomäßig aktiv werden zu dürfen.
"Es ist auch in diesem Fall so, dass die Polizei nur darf, was ausdrücklich erlaubt ist",
meint Werner Pleischl, Verantwortlicher für Strafprozessrecht im Justizministerium, und fügt
hinzu: "Schwierigkeiten im Videoaufzeichnungsbereich sind mir nicht bekannt, und so gibt es
momentan auch keinen Anlass, strafrechtlich einzuschreiten."
Keiner hat's gesehen.
Ganz anders sieht die ARGE Daten die Situation. "Nicht einmal in den Umkleidekabinen oder im
Hausflur ist es verboten zu filmen. Irgendwann wird man Reservate für Menschen schaffen
müssen, damit er kurz anonym sein kann", meint Hans G. Zeger, der auf Schaffung von
Gesetzen drängt. Die Regelung müsste klar vorschreiben, was man wo und wie aufzeichnen darf.
Dies wird allerdings immer unrealistischer, da schon jetzt nahezu alles mit Videokameras
zugepflastert ist. Werden alle dies Aufzeichnungen vernetzt, ist das Horrorszenario
geschaffen. Jederzeit wären dadurch Daten und Gewohnheiten aller Einwohner abrufbar und
zur Sozialkontrolle einsetzbar.
Patrouille am Bildschirm.
In Großbritannien, dem am besten überwachten Staat der Welt, ist Big Brother längst ein
Teil des Alltags. Rund eine Million Kameras beobachten das Königreich. Gekoppelt mit
Gesichtserkennungsprogrammen können von der Polizei gesuchte Personen identifiziert und
gezielt verfolgt werden. All das ist bereits Realität und wird nur noch von der jetzt
entwickelten "Thi nking Camera" übertroffen, die Gut und Böse unterscheiden kann. Ihre
künstliche Intelligenz kann Personen lokalisieren, die sich nicht der Norm entsprechend
benehmen. Gerechtfertigt wird die Entwicklung dieser Systeme folgendermaßen: "Wer sich
anders verhält, muss zumindest erklären warum das so ist." Auf gesetzliche Regelungen
für den öffentlichen Raum wird der Einfachheit halber gerne verzichtet.
Datenschutzexperte Zeger:
"Mit Videokontrolle kann ich zwar den Diebstahl der Sonntagszeitung verhindern, aber
Kapitalverbrechen passieren nicht im öffentlichen Raum und sind auch in London nicht
zurückgegangen." Aber nicht nur die ARGE ruft nach Gesetzen. Paul Reither vom
Sicherheitsunternehmen Group 4 Securitas: "Experten und Politiker sollten sich dringend
an einen Tisch setzen, um rechtzeitig Gesetze vorzubereiten, bevor uns die technische
Entwicklung überrollt. Heute sind 70 bis 80 % von Industrie und Handel bereits
videoüberwacht. Tendenz stark steigend. Es gilt, ein ausbalanciertes Modell zu finden,
denn die komplette Überwachung geht eindeutig zu weit."
Zufrieden ist hingegen
Detektiv Werner Machacek mit der momentanen Gesetzeslage. "Im Augenblick kann ich tun
und lassen was ich will. Kommt ein Gesetz, kann das für mich existenzbedrohend sein."
Wie wahr: Machaceks Ermittlungen laufen unter der Bezeichnung "verdeckte Überwachung",
die von ihm verwendeten Kameras sind als Küchenuhren, Steckdosen und Rauchmelder getarnt.
Fazit: Rund 100 Überwachungen im Jahr, davon etwa die Hälfte im Privatbereich. Der
Großteil der Kunden will Aufklärung von Vandalenakten, die Beschattung des Ehepartners
oder schlicht den missliebigen Nachbarn auf frischer Tat ertappen.
Mülldokumentation.
Die Situation in Österreich ist bisher nicht eskaliert, doch breiten sich die
Einsatzgebiete immer mehr aus, und die Vielseitigkeit der Videokontrolle wird auch
hierzulande immer deutlicher. So wird seit einem Monat in Linz mit versteckter
Kamera Jagd auf Umweltsünder gemacht. Die Abfallrowdys, die ihren Hausmüll nicht nach
Vorschrift trennen, werden gefilmt, identifiziert und in eine Mülldatei aufgenommen.
Anders ist ihnen laut Bezirksabfallverband nicht mehr beizukommen.
Trude Schreibershofen, Birgit Oppolzer
'Nachdruck' aus dem
Nachrichtenmagazin NEWS Nr. 36 |
7. September 2000, mit freundlicher Genehmigung der Autorinnen und der
Verlagsgruppe NEWS GmbH
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